Eröffnungsrede im Museo Archeologico

Salerno 25.9.2014

Der Schönheitskonflikt

Heute abend müssen wir uns ausführlich mit Schönheit befassen. Nicht mit idealisierter Schönheit, sondern mit der des grafischen Zeichens, seiner semantischen Zuordnung und dem kulturellen Klima der Mappe Cinacittà von Susanne Ristow (erschienen bei der Edition Il Laboratorio/ le edizioni, Napoli 2013)

(…) Doch was ist Schönheit? Erlauben wir uns eine etymologische Ausschweifung, damit deutlicher wird, was wir wahrnehmen, wenn wir von „Schönheit“ sprechen, wo sich ihr Geist verbergen mag, der auch unter den fragmentarischen Exponaten dieses Museums umgeht. Bello (ital. Schönheit) ist das lateinische bellum (lat. Krieg), seinerseits entstanden aus dem Wort duellum. Das Schöne enthält also einen Konflikt.
Außerdem hat bello die gleichen etymologischen Wurzeln wie buono, das antike dueno (span. bueno), was soviel wie fähig, vielseitig hieß. Dueno nannte man einerseits den beidhändig tätigen Handwerker als auch den polytropos, einen vielseitig ausgerichteten (pluriverso) Menschen mit der Möglichkeit, unterschiedlichsten Formen, Orten und Situationen gleichzeitig gerecht zu werden. Dueno einerseits und duello andererseits sind als Gegensatzpaar und Gegner polarisierende Bedingung und Standard für das Denken. Es scheint also als sei „Schönheit“ das Vermögen mit ungewöhnlichen Kontrasten und Variablen emotionalen Charakters umzugehen, die Kenntnis darüber, von Dissonanzen zu Konsonanzen der Erkenntnis zu wechseln – sowohl als Verhaltensweise wie auch als kultureller Umstand.
Es steht zu vermuten, dass bei der ersten Begegnung mit Cinacittà eine Dissonanz entsteht: Das Gesicht einer orientalischen Frau von seltener stilistischer Perfektion, prüde und zurückgezogen, zeigt sich umgeben von sich reproduzierenden Globen, ohne Photoshop, wer weiß ob himmlische Sphären oder Viren, also subzelluläre Organismen und lebende Strukturen, die eine zur Reproduktion erwählte Zelle nutzen, um sich in großer Zahl vervielfältigen zu lassen und als Kopien ihren Weg wieder aufzunehmen. Beim ersten Durchblättern der Mappe ist man unentschieden, ob das Gesicht als Zelle oder Virus unter anderen zu sehen sei (und da hätten wir die Dissonanz). Was soll das?
Wenn zwei Elemente sich duellieren, passiert es, dass sie sich vermengen. In unserem Fall bedeutet dass, der Virus vermischt sich mit dem Gesicht der Frau und umgekehrt. Dahinter steht eine komplexe, ganzheitliche Feststellung; dem biologischem Code folgend, tendiert das Gesicht dazu, Virus unter Viren, Planet unter Planeten oder Virus-Planet oder Noch-Nicht-Gesicht zu sein. So oder so geht es, um Begriffe der Logik anzuwenden, um ein Zwischenstadium, um ein bevorstehendes Sein, das im Begriff der Natur als dessen, was im Entstehen begriffen ist, enthalten ist als das, was das Sein der Seienden schon in sich trägt.

Aber nach welcher Grundstruktur geht Ristow bei der Organisation ihrer Zusammenhänge vor? Man sollte erwähnen, dass diese Künstlerin schon immer den urbanen Raum geliebt hat (und die Mauern Neapels ganz besonders), dass ihr die Mauern der Stadt Freiluftatelier waren, Kommunikationsmittel und Untergrund der eigenen Zeichen und Botschaften. Neapel, seinerseits, ist reich an Kunstwerken im Durcheinander der Grafitti. Analog zu Ristows Vorgehen gab es den Franzose Ernest Pignon mit seinen caravaggiesken Zeichungen, die nachts begannen, die Gassen zu bevölkern nach dem Vorbild der „Sieben Werke der Barmherzigkeit“. Ristow nimmt Pignon zum Zeugen: Ihre junge chinesische Reisende voller Neugier (deren Schatten in der hier vorliegenden Mappe wieder auftaucht), hat sicher haltgemacht vor dem berühmten Werk Caravaggios oder auf dem Schachbrettboden von San Giovanni a Carbonara gespielt, hat die Steine der Stadt gelesen (und sicher im Haus von Vico und Leopardi haltgemacht), und trägt in ihrer Tasche die antike Tradition ihrer Vorfahren mit sich, das eigene Schicksal; und ihre Reise in die „poröse Stadt“ (Walter Benjamin) lässt sie ein wenig zur Parthenope werden und so bleibt ihr Schatten auf den Wänden der Stadt zurück, im Gegenlicht kaum ohne Fotokopiereffekt zu halten.
Bleibt anzumerken, dass die Bewohner der Durchgangsorte der Reisenden ihr Bild schon adoptiert haben und ihr stückweises Verschwinden im Regen beklagen. Doch es ist recht so, denn wie wir wissen, löscht nur der Regen die Schatten aus.

Das Pendant zur Person der modernen Reisenden, en passant lächelnd, ist hier in dieser Mappe zu finden, jetzt eingeritzt und von etwas mehr Haltbarkeit, dennoch bleibt der Eindruck, sie sei schon verschwunden, bevor sie recht auftauche.
Diese Person, zum eingekerbten Topos geworden in Form des umwickelten, durchbohrten Herzen eines chinesischen Poems, um dessen Spitzen die Viren kreisen, nicht feindliche Planeten, sondern Genomen gleich, nennen wir sie ruhig Archetypen, die Meme der Genetik als Einheit von kultureller Produktion und ererbter Verhaltensweise wie sie von der Biologie propagiert werden. Also ist die Person in diesem Werk selbst ein Mem, Element eines Rituals und einer Zeremonie des Schönen.
Und so wird durch die Anwesenheit des Virus aus der Schönheit selbst ein Virus, zweifellos sehr potent, ansteckend und durchaus krankmachend (siehe Stendhal).

Innerhalb der Mappe Cinacittà sind die Viren oder Moleküle oft durch einen ganz klassischen roten (Tinten)Faden verbunden, der die Hauptperson zur Ariadne werden lässt, in unserer Tradition „die Pure“, voller beunruhigender Elemente des Weiblichen und Dionysischen: An den Umrissen von Gesichtern, „Personae“ , am Saum ihres Brautgewandes meint man den Vollzug des Ritual des „Diasparagmos“ zu erkennen.
Mit solchermaßen fortlaufenden ikonographischen Zitaten, die sich mit einem Hauch purer chinesischer Elganz auf den Blättern andeuten, lädt uns Ristow ein, dem roten Faden zu folgen und Zusammenhänge zwischen Bildern und Texten herzustellen; damit möchte ich betonen, dass es nicht unbedingt so ist, dass jedes Bild mit dem dazugehörigen Text und seiner Kalligrafie zusammenhängt, sondern vielmehr durch eine Potenzierung hermeneutischer Möglichkeit alles mit allem zu tun bekommt und den Sinn steigert.
Das „Schöne“ an diesem Vorgehen ist, dass die Komplexität gewürdigt wird, die das für die Kunst so wichtige Wissen mit sich bringt: wissen, zu tun wissen, um das Sein wissen und vor allem zu fühlen wissen, die wohl wichtigste Ebene der Kommunikation, und das alles geschieht mit einer solchen Leichtigkeit, dass wir fast fürchten müssen, mit einem Atemzug oder dem Umwenden einer Seite Zeichen und Bilder von den Blättern zu wirbeln. (…)

Mimmo Grasso