Cinacittà

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Made in China in Neapel

Im Rahmen eines Stipendiums der Staatskanzlei NRW und der Fondazione Morra hat Ristow 2010 die Gelegenheit, wieder für längere Zeit in Neapel zu arbeiten. Sie dreht ein Videoclip mit einer jungen Chinesin, die auf ihrem konspirativem Gang durch die Altstadt von vorbeifliegenden Lendentüchern begleitet wird. Die Auseinandersetzung mit den neuen chinesischen Vierteln und der chinesischen Bevölkerung Neapels führt schließlich zu Ristows Engagement in Beijing.

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                                      „Alles nur Denkbare wird hier durchgeschleust. (…) Der Hafen von Neapel ist die Öffnung im Globus, durch die ausgespuckt wird, was China und der Orient hervorbringen, den die Chronisten immer noch gerne den Fernen Orient nennen. Fern, sehr fern. Fast unvorstellbar. Wenn wir die Augen schließen, sehen wir Kimonos, Marco Polo mit seinem langen Bart und Bruce Lee im kühnen Sprung. In Wirklichkeit ist dieser Orient mit dem Hafen von Neapel so eng wir mit keinem anderen Ort der Welt verbunden. Hier hat der Orient nichts Fernes. Er liegt unmittelbar vor der Tür und müsste der Nahe Orient genannt werden.
Alles, was China produziert, wird hier ausgekippt. Wie wenn einem Kind sein Eimerchen in einer Sandkuhle umfällt und das verschüttete Wasser sich ausbreitet und versickert. Über Neapel werden zwanzig Prozent des Wertes der Textilproduktion aus China eingeführt, aber siebzig Prozent der Waren passieren den Hafen.
Dieses merkwürdige Phänomen ist schwer zu verstehen, aber Waren haben magische Fähigkeiten, sie können existieren, ohne vorhanden zu sein, ankommen, ohne je zu erscheinen, den Kunden ein Vermögen kosten, obwohl sie wertlos sind, für die Steuerbehörden als Lumpen durchgehen, obwohl sie aus edlem Material sind.“

(Roberto Saviano „Gomorrha“)

Rita Schulze Vohren zu Cinacittà

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Cinacittà. In dieser Arbeit ist Susanne Ristow Konvergenz und Kulmination gleichsam gelungen.
Der Titel des Videoclips verheißt lautmalerisch Nähe zur Cinecittà in Rom, dem Geburtsort des Neorealismo. Tatsächlich zeigt das Video die chinesische Dozentin Jie auf ihren Streifzügen durch ihre neue Heimatstadt Neapel, China in Italy. Jie wird bei ihren Ausflügen begleitet von vorbeischwebenden Lendentüchern, die sich scheinbar aus dem Off in die Stadt begeben haben. Mit Verwunderung und konspirativen Verweisen werden diese Erscheinungen zur Kenntnis genommen. Gehen, Staunen, Flüstern.
Manchmal wird Jie bei der Betrachtung von Todesanzeigen gezeigt, die nach italienischem Brauch auf Mauern und Häuserwände plakatiert, selbst dem Werden und Vergehen, der Zeitlichkeit ausgesetzt sind. Die neuen Arbeiten von Susanne Ristow sind während ihres Aufenthaltes in Neapel 2010 entstanden. Ein Stipendium der Staatskanzlei NRW und ein Gastatelier der Fondazione Morra hatten diesen Aufenthalt ermöglicht.

Welche Bildstrategien verfolgt die Künstlerin im Video Cinacittà und was hat diese filmische Arbeit mit „On Paper“ zu tun? Ristow ist eine besessene Zeichnerin und Sammlerin von Postkarten, Büchern und Fotos : „Es muss ein dejà vu-Effekt sein, es erweitert meinen Diskurs, dann baue ich sie ein.“ (1)
Die fliegenden Lendentücher in Cinacittà gehen motivisch zurück auf übermalte Fotokopien von Lendentüchern, die Ristow ab 1998 aus Corpus Christi-Darstellungen (Kreuzabnahme, Beweinung, Grablegung, Pieta) extrahierte. Die Befreiung des Motivs aus dem narrativen Zusammenhang des 16. und 17. Jhdts. ließ im gezeichneten Lendentuch die voranschreitende Sexualisierung des Christuskörpers (2) bis zur Kenntlichkeit in einer unerhörten Sinnlichkeit offenbar werden. (3)
Die durch Neapel wandernde Chinesin nimmt diese sexuell aufgeladenen Textilien als UFOs (unbekannte Flugobjekte) wahr und begreift ihre stillen Begleiter nicht so ganz. Dabei sind Lendentuch und Lendenschurz doch in allen Kulturen beheimatet. Auch als genähtes Objekt ist das Lendentuch in der Ausstellung vertreten. Mit Ausdauer hat Ristow einem Schneider in Peking in Zeichnung und Wort erklärt, wie er dieses Bekleidungsstück aus grauem Anzugsstoff (Nadelstreifen, gefüttert mit pink Paisley) zu nähen habe. Common Cultural Knowledge? Aussicht auf modisches Accessoire Made in China?
Anders hingegen bei den modischen Vorlieben der chinesischen Bräute im Themenkomplex bridal expo, dem neuen Projekt von Ristow. Während mehrerer Aufenthalte in China 2010/2011 vergewisserte sich die Künstlerin der Tatsache, dass westliche Brautmode als Zeichen von Luxus und Klasse Objekt einer Aneignung wurde. Made in China. Ristow formuliert es so: „Von Neapel über Beijing nach Duisburg-Marxloh gibt es ein geheimes Verständnis über die Zelebration der exklusiven Verbindung und der sexuellen Verheißung. Und möglicherweise ist der Brautschleier ein letzter Nachfahre des Lendentuches Christi.“ (4)

Cinacittà. Made in Italy. Ristows Verschränkung von Bildern und Zeichen ist beunruhigend hybrid. Das trifft auch für die mutierten Virenformen zu, die sie seit der Schweinegrippenhysterie zunächst als digitale Animationen interessierten und die als duchampian models mit den Christusbräuten eine überraschend unheimliche Verbindung oft als Schleier/Kopftuch eingehen. Die imaginäre Gefahrenzone wird ausgeweitet.

In einer älteren Videoarbeit „Agitatorische Zeichnung“ (2004) greift die Künstlerin zurück auf ihre Plakatierungsaktionen im öffentlichen Raum in der Altstadt Neapels (1998-2000). SW-Fotos dieser Aktion werden mit Fragmenten aus ihren Skizzenbüchern überblendet. Als Soundtrack ist im Hintergrund Paul Hindemiths Trauermusik für Viola solo (1936) zu hören. Neapel – Melancholie und Tod.

Mit scheinbar ironischer Heiterkeit lässt Ristow einen jungen Chinesen mit Lendentuch vor einem griechischen Tempel in Süditalien posieren. Adonis, Mythos Männlichkeit, Mythos Arkadien, von Wilhelm von Gloeden inspiriert. In carta pesta ausgeführt und in monumentale Größe hochkopiert inszeniert dieses Bildnis die Vorstellung von „et in arcadia ego“ (5) und unterminiert sie zugleich.
Die Realität der chinesischen Arbeiter und Arbeiterinnen, die in Italien unter harten Bedingungen in der Textil- und Lederindustrie arbeiten und dieses aussterbende italienische Handwerk beleben oder begraben, wird hier in der Wechselwirkung der Papierarbeiten und Videos untereinander im Gewand einer hybriden Zeichensprache sichtbar gemacht.

Neapel ist eine anarchische Stadt, eine Mischung aus Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Brutalität und Ausbeutung. Griechische, römische, französische, sizilianische und inzwischen chinesische Identitäten weben hier eine sehr eigene städtische Textur und entwickeln ihre eigenen Praktiken im Raum. Michel de Certeau schreibt in seinem Text „Gehen in der Stadt“:
„Die gewöhnlichen Benutzer der Stadt aber leben „unten“ (down), jenseits der Schwellen, wo die Sichtbarkeit aufhört. Die Elementarform dieser Erfahrung bilden die Fußgänger, die Wandersmänner, deren Körper dem mehr oder weniger deutlichen Schriftbild des städtischen „Textes“ folgen, ohne ihn lesen zu können.“ (6)

Wo beginnt das geheimes Verständnis über „exklusive Verbindung“ und „sexuelle Verheißung“ (7), das uns transkulturell fasziniert? Cinacittà lässt es vielschichtig durchscheinen.

1) Susanne Ristow im Gespräch mit Helga Meister (Kunstforum International 2004)
 2) Grundlegend dazu Hans Belting, Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München 2005.
 3) Georg Imdahl im Katalog Das Adonis Depot 2009.
 4) Bereits der Meister der Karlsruher Passion Mitte 15. Jh. zeigt in der Entkleidungsszene, wie Maria Jesus mit ihrem Schleier umschürzt. Aust.Kat. Der Meister der Karlsruher Passion, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe 1996.
 5) Vergil Eclogae (V, 42 ff.
 6) Michel de Certeau Kunst des Handelns dt. Ausgabe Berlin 1988
 7) Susanne Ristow Kommentar im Internet 2011