Korrespondenz zu mammaromamontage

Paul Baiersdorf (Publizist + Philosoph, Berlin) und Susanne Ristow (Künstlerin, Düsseldorf)

mammaromamontage | Susanne RistowLet me do it again (Gertrude Stein)
The whole world is a prison. Having been to prison you know this and are never again free; and even if you do not know this, and even if you have been to prison, and even if you have obeyed the laws and have hidden in fear when the sirens sounded, are you free? (Julian Beck and Judith Malina)

zum Werk „mammaromamontage“

Susanne Ristow: Gestern wurde mir plötzlich klar, das der Dreh- und Angelpunkt meiner nächsten Ausstellung ein Bild ohne Figur ist, besser gesagt drei Bilder, denn wie alle Motive dieser letzten zeichnerischen Filmanalyse habe ich es in mehrfacher Ausführung und in unterschiedlichen Formaten gemalt. Dargestellt ist ein doppelt vergittertes Fenster. (…)
Warum ist dieses Bild zwischen hunderten von Gesichtern in meiner Arbeit so wichtig? Ich habe erkannt, dass sich in dieser Frage ganz viele Aspekte meiner Beschäftigung mit Ikonografie im Allgemeinen, besonders aber mit der Bedeutung von Filmbildern, zusammenfinden. Seit 1998, also ungefähr seit Wiederaufnahme unserer Gespräche über vieles von dem, was wir hier zu erörtern haben, zeichne ich Filme. Du bist selber ein viel versierterer Kinogänger und Filmkenner als ich, manch einen Film verdanke ich dir, z.B. den Überfall mit einer Nacht lang „Apokalypse Now Redux“ beim Kurzbesuch in Berlin 2001, der seine Spuren bei den „Einsamen Helden“ hinterließ.
Dir ist also die Idee des (Licht)bildes als Öffnung vertraut.
Ich denke nun, dass alle meine künstlerischen Versuche, und natürlich nicht nur meine, um den Kernbegriff des ENTKOMMENS kreisen, vor allem um das vergebliche Bemühen, sich selbst, der eigenen Existenz zu entkommen. (…)

Paul Baiersdorf: Dein doppelt vergittertes Fenster gefällt mir und wir werden noch eine Weile darüber zu reden haben. Dann muss ich wohl mal sehen, dass ich endlich mal „Mamma Roma“ sehe, nicht wahr?
Oder Du sagst es sei nicht in erster Linie wichtig, dass ich den Film sehe. Ich muss auch nicht nach Rom, um mitreden zu können. Denn wir wollen ja über Dein Bild sprechen, oder von Deinem Bild ausgehend, über die Sehnsucht nach dem ENTKOMMEN.
Oder über Gefängnisse, von mir aus, das sieht ja wie ein Gefängnisfenster aus, ein doppelt vergittertes zudem, das nicht nur zwischen draußen und drinnen trennt, sondern auch noch ein Dazwischen setzt, das wir leicht zu übersehen geneigt wären.
Oder lass uns, den Buchtitel eines anderen Lübeckers ausleihend, über „Höhlenausgänge“ reden. Einer meiner Höhlenausgänge ist sicher die Sprache. Also das Spiel mit Texten, mit aufgeschriebenen Gedanken, mit neu zu Sagendem schon längst Gesagt- und Geschriebenem (auf der Bühne nämlich), so wie Du Bilder ausleihst und mit ihnen spielst; die Spuren werden immer länger. Sprache, Bilder, das wäre, nach meinem momentanen Verständnis die Freiheit, dieses von zwei Gittern begrenzte Dazwischen.

Die Frage des Lichtes ist dann, eindeutig, die platonische Frage.
Im Film ist das Licht immer metaphysisch.
Was erzeugt, wie entsteht die Öffnung, die das Licht hindurchscheinen lässt? Dies ist, glaube ich, das Kernproblem des Kampfes, den Du mit den Bildern austrägst und ich mit den Worten führe. Die bloße Immanenz kann nicht bis zu dieser Schicht durchstoßen, daher mein Zögern im Hinblick auf Deleuze. (Hans Belting, den wir einmal zusammen gehört haben, hat bei einem anderen Vortrag, an den ich mich besser erinnere, zwei Fotoserien von Sujimoto gezeigt, eine mit Horizonten, die andere mit „verdichteten“ Filmen, kennst Du sie?) (…)

Susanne Ristow: Nein, es ist ist nicht wirklich wichtig, Italien oder Pasolinis „Mamma Roma“ zu kennen, um meine Arbeit am Film zu verstehen, obwohl natürlich auch ein Stück Hommage an das Italien Magnanis und Pasolinis dabei ist. Und es natürlich nicht unwichtig ist, dass Pasolini selbst im Gefängnis war und dass sein autobiografischer Film mit seiner Ermordung endet.(…)
Ich habe mich gefragt, welche persönlichen Gründe zu der Auswahl der den Filmarbeiten zugrundeliegenden Filme geführt haben. Dass alle Filme, mit denen ich gearbeitet habe, hervorragend sind, sehr eigenartige Einzelbilder erkennen lassen und (erstaunlicherweise) dabei noch so einen Bekanntheitsgrad erreicht haben, dass man sagen kann, sie sind Teil des kollektiven Gedächtnis geworden, oder auch moderner Mythos, ist ja noch kein individueller Grund, das reicht gerade mal fürs Filmlexikon. Den jetzigen Film habe ich als Schülerin im Nachmittagsprogramm des (damals) ambitionierten Lübecker Programmkinos mit dem schönen Namen „Hoffnung“ gesehen, wie etliche andere alte Filme zum Sonderpreis für Jugendliche. Wahrscheinlich habe ich vorher beim Klang des Namens Pasolini erwartet, der Film würde zu meiner sexuellen Aufklärung beitragen, tatsächlich aber hat er mich so nachhaltig verwirrt, dass ich am Schluss nicht glauben konnt, er sei schon zu Ende, überzeugt, die wesentlichen Szenen verpasst zu haben, wandte ich mich um, jemanden zu fragen, aber das Kino war leer. Warum taucht der Film jetzt wieder in meinem Leben auf? Warum jetzt Pasolini, dieser Pasolini? Es reicht wohl nicht, die autobiografische Betroffenheit (Mutter-Sohn-Thematik, Italien etc.) anzunehmen. Nach den „Einsamen Helden“ habe ich eine Heldin, sofern es das überhaupt geben kann, gesucht, und habe dabei immer schon vage an Anna Magnani gedacht. Wenn, dann sie. Weil sie sich in ihrem Leben wie in ihren Filmen vehement wehrt gegen Konditioniertheit. Als römische „Lupa“ (lat. „Wölfin“, „Hure“) nimmt sie es auf sich, wehrhaft zu bleiben, eine Chance zu fordern anstatt zum üblichen (weiblichen) Opfer zu werden. Gleichzeitig ist sie keine heroische Diva wie die Garbo oder die Callas.
Hinzu kommt, aber das wurde erst deutlich, als ich mich schon längst für die Arbeit an diesem Film entschieden hatte, dass der Film eben auch eine PIETÁ in bewegten Bildern ist, wobei wir wieder beim „Corpus Christi“ und Beltings sehr guten Ausführungen zu diesem Thema wären. Es vermischen sich also einige Bereiche meiner Arbeit, die „displaced bodies“ spielen wieder eine Rolle, den Sohn der Mamma Roma habe ich kurzerhand auch in mein inzwischen sehr umfangreiches „Adonis Depot“ aufgenommen (jetzt auch demnächst auf DVD als Diashow).
Fluchtversuche und Veränderungswünsche der Akteure in „Intimacy“ und bei den gebrochenen Helden gehen Hand in Hand mit dem den Arbeiten zum „Absturz“ und gewinnen jetzt neue Bedeutung. Eine Sonderstellung nimmt das Gesicht meines ersten gezeichneten Filmes ein: Maria Falconettis Großaufnahme bei Dreyer ist pure Präsenz, ein Sich-Stellen.Mit diesem Stichwort lass mich für heute schließen, wo kein Entkommen möglich ist, wird es umso wichtiger, sich zu stellen. Wie das möglich ist, werden wir noch sehen müssen.

Paul Baiersdorf: Als ich Dich kennenlernte, hast du in der Werkstatt (Düsseldorf, Klosterstraße) mit Tänzern gearbeitet. Die ersten Arbeiten, die ich von Dir sah, kreisten um das zeichnerische Erfassen der Bewegung. Und schon damals, wenn ich mich recht erinnere, hattest Du mindestend drei Schichten, auf denen Du das Thema verfolgtest: thematisch, indem Du Tänzer beobachtetest; im Duktus, insofern die Linie Kontur, Bewegtheit des Gegenstandes, Bewegung der Hand deutlich hervortreten ließ; im Umgang mit deinen Materialien, was damals schon auch die Manipulation des Raumes implizierte. Es ging gleichsam um Nachbildung als Erzeugung… Diese Bewegtheit in sich und im Raum beherrschte dann auch die Arbeit mit den Plakaten in Neapel und Berlin. Hier hast Du der Bewegung weitere Dimensionen abgewonnen: die Todesthematik, das Ikonographische, das Historisch-Soziale. Es war durchaus ein Schritt hin zu einer strengeren Objektivierung: im Ruhenden ist innere Bewegtheit.
Ich möchte auch, wenn Du gestattest, daran erinnern, dass es in dieser frühen Zeit Versuche Deinerseits gab, vom Zeichenerischen wegzukommen, Zweifel an der Dominanz der Linie. Mir scheint auch diese Bewegung in Deinem Werdegang deutlich: Der Objektivierung im Thematischen entspricht eine gesteigerte Disziplin. Diese Phase, der DESILLUSIONIERUNG, scheint mir ein wesentlicher Schritt im Reifen der Arbeit zu sein, die Eloquenz des Verstummens.

So bist Du von der Arbeit am bewegten Körper über die Meditation der Deposition zur Isolierung des Filmbildes gelangt. Wie konsequent sich der Kreis zum großen Werk Dreyers schließt! Denn diese Gravitation des Einzelbildes, der Du mit Deinen zeichnerischen Filmanalysen Geltung verschaffst, ist mitnichten die Negation der Bewegung. Vielmehr liegt die Lösung die der Film dem Problem der Bewegung gibt eindeutig im Bereich der Montage, das führt Dreyer im Jeanne d’Arc Film aus. Die produktive Spannung zwischen Kontrast und Wiederholung, zwischen Wandel und Beharren schafft den Zwischenraum, den wir im Bild des vergitterten Fensters analysiert haben. Deine filmanalytischen Zyklen nähern sich einer möglichen zeichnerischen Antwort auf das gleiche Problem. Du kehrst zu Dreyer mit tieferem Vertändnis wieder zurück. Was Du erstreitest, ist die Befreiung des Bildes.

Susanne Ristow: Schön, dass du mir mit den Tänzern kommst und mich an die Zeit des Umherirrens erinnerst. Erinnerst Du dich noch an meinen ersten Brief vor vielen Jahren, habe ich ihn Dir überhaupt geschickt? Es ging um die Frage nach dem Fokus, den der Tänzer nicht verlieren darf, damit er nicht zu Fall kommt.
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Passion? Focus finden. Da sein. Aus eigener Kraft. Aushalten.

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Was ist Dir Fenster?