Künstlergespräch zwischen Helga Meister und Susanne Ristow

Helga Meister: Du bist besessen von der Zeichnung, die Linie ist die Grundvoraussetzung deiner Kunst. Du hast 1990 bei dem Grafiker Roland Dörfler in Braunschweig angefangen und bist vier Semester geblieben. Erzähle von ihm.

Susanne Ristow: Dörfler war ein großer Zeichner, er war für mich eine Vaterfigur. Er war schon pensioniert, als ich kam, und hat ein Jahr länger gemacht. Ich war seine letzte Studentin, mit 18 Jahren war ich die jüngste an der ganzen Hochschule. Er hatte keinen Platz mehr für mich und steckte mich in seine Meisterschülerklasse zu vier oder fünf Studenten, die genau wussten, was sie wollten. Das war sehr schön für mich, weil ich als blutige Anfängerin mit Leuten konfrontiert wurde, die schon eine klare Idee hatten, wie ihre Arbeit weiter gehen sollte. Die älteren Studenten kümmerten sich alle um mich, forderten mich heraus und stellten Fragen. Sie halfen mir auch, eine eigene Arbeitsdisziplin zu finden.

Helga Meister: Dörfler hat große Bilderzyklen gemacht, wie du später auch.

Susanne Ristow: Ja, ich habe immer zyklisch gedacht. Ich habe die einzelne Zeichnung stets im Zusammenhang einer Folge gesehen. Dörflers Art und Weise, Zeichnungen offen zu halten, habe ich bewundert. Er war ein sehr vorsichtiger und aufmerksamer Lehrer. Es war das beste, was mir passieren konnte, dass ich an einen alten Professor geraten bin. Ich bin nach Madrid gegangen, als er aufhörte. Ich wollte schon vor dem Studium ins Ausland gehen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich sofort an einer Akademie genommen wurde.

Helga Meister: Du hast in Braunschweig hauptsächlich radiert, sehr viel Schwarzweiß.

Susanne Ristow: Ja, ich liebe Strichätzung, weil die Linien so wunderbar auf dem Papier stehen. Mich hat der Aspekt der Vervielfältigung in der Grafik nicht so sehr interessiert.

Helga Meister: Du erzähltest einmal, dass du in Braunschweig nicht nur gezeichnet und radiert, sondern auch im Altersheim gearbeitet hast. Hast du da die Leute gezeichnet?

Susanne Ristow: Nein, ich habe als Pflegerin gearbeitet. Ich bin morgens um halb sieben hingegangen und habe den Leuten aus dem Bett geholfen, habe sie gewaschen und alles gemacht, was so dazu gehört. Mir wurde ja in Braunschweig von meinem Grundklassen-Professor angelastet, ich wolle sozialistischen Realismus betreiben. Ich habe gesagt, dass sei totaler Quatsch, ich wolle keine sozialen Bilder machen. Mich fasziniert die Faltung der Haut, mich faszinieren die Linien, die bei alten Menschen ganz anders verlaufen, so dass man das nicht nach dem Schema F erzählen kann wie beim Aktzeichnen. Ich habe im ersten Jahr in Braunschweig sehr viel Akt gezeichnet, das hat mich aber gelangweilt. Ich mag nicht, dass ein Mensch zum Ding wird.

Helga Meister: Als Dörfler aufhörte, bist du 1992/93 nach Madrid gegangen. Als Stipendiatin?

Susanne Ristow: Nein, das war ein freier Aufenthalt, bei dem ich herausfinden wollte, ob ich allein arbeiten kann oder nur weiter mache, weil ich an einer Kunstakademie bin. Ich habe mich durchgekämpft. Ich war ganz auf mich gestellt, ich kannte keinen Menschen, das war meine Herausforderung. Nachher hatte ich ein Atelier in Madrid. Ich hätte auch nach Barcelona gehen können, zu Freunden. Ich bin bewusst nach Madrid gegangen, weil ich es wissen wollte.

Helga Meister: Du bist natürlich in die Museen gegangen.

Susanne Ristow: Ja, das Reina Sofia war damals gerade neu eröffnet, und Goya im Prado war wichtig für mich. Ich bin beim ersten Besuch falsch herum, also von hinten, in den Prado gegangen und direkt im Raum der schwarzen Bilder gelandet. Das war für mich eine Offenbarung. Madrid war in jeder Hinsicht so. Es gibt dort großartige Sammlungen alter und neuer Kunst. Ganz hervorragend war die Bibliothek des Reina Sofia, eine neue und mit guten Medien ausgestattete Bibliothek, mit Katalogen aus aller Welt und in allen Sprachen. Dort habe ich meine Tage verbracht, in dieser Bibliothek und in diesem Garten des Museums, und ansonsten bin ich durch die Straßen gerannt und habe Menschen verfolgt, die ich mir gemerkt habe, um sie aus der Erinnerung zu zeichnen, also das zu machen, was man bei griechischer Kunst das Vorstellige nennt. Das war mein Projekt, ich wollte sehen, ob das geht, und habe viele Fragmente gesammelt. Ich habe damals Serien von „Fragmentos“ und „Conjuntos“ gemacht, Fragmenten und Bildkombinationen aus allen möglichen Teilen. Das Straßenprojekt von Neapel war dort schon vorgezeichnet.

Helga Meister: 1993 kam Kounellis nach Düsseldorf. Du bist gezielt zu ihm hingegangen, es war kein Zufall?

Susanne Ristow: Nein, das war kein Zufall. Ich habe nach jemandem gesucht, der andere Erfahrungen als diese übliche Hochschulroutine mitbringt.

Helga Meister: Wie war die erste Begegnung mit ihm?

Susanne Ristow: Ich erinnere mich, dass der Raum mit lauter Leuten gefüllt war. Unheimlich viele Bewerber standen da im Klassenraum, und Kounellis war eher zurüuckhaltend und schüchtern, und konnte die Sprache nicht. Er war heilfroh, dass man ihm Arbeiten zeigte, da bekam er plötzlich wieder festen Boden unter die Füße. Sobald er etwas anschauen kann, ist er ganz da und ganz sicher. Aber sonst ist er eher zurückhaltend und scheu. Ich wusste, dass er kommt und habe die Ausstellung in Recklinghausen besucht. Ich wollte nach meinem Aufenthalt in Spanien einen Südeuropäer als Professor haben. Ich habe einen Hang zu Südeuropäer.

Helga Meister: Was hat dich an Kounellis fasziniert?

Susanne Ristow: Bei Kounellis ist der Humanismus noch ganz groß geschrieben, und die griechisch-römische Tradition. Gleichzeitig kam eine sehr intensive Auseinandersetzung mit der Renaissance hinzu. Er hat aber auch den Bogen zur Moderne geschlagen, auf eine sehr poetische Art. Zum Beispiel machte jemand eine Arbeit, wo ein paar Blumen auf der Erde lagen. Da meinte er, wenn man Blumen so sehen würde, müsse man an die tote Ophelia denken. Er stellte Assoziationen her zur Literatur, zur Malerei, zu den verschiedenen Kunstbereichen. Er nannte Dinge, wo man gar nicht wusste, wie er darauf gekommen war, bis man nach einer Zeit verstand, dass es Eckpunkte gibt, die für ihn wichtig sind. Er hat oft von seiner Sehnsucht nach einem Zentrum gesprochen, das verloren gegangen sei. Da war man manchmal etwas hilflos, weil es ein sehr intellektueller Ansatz war, den man noch nicht verstand, vielleicht auch, weil einem der ideologische Überbau seines Denkens erst mit der Zeit deutlich wurde.

Helga Meister: Womit hast du dich bei ihm beworben?

Susanne Ristow: Mit Büchern. Ich bin ein bibliophiler Mensch, ich habe viele Bücher. Es gab einen Diskurs über Bücher an und für sich. Ich habe erst mal alle Möglichkeiten des Buchs gebracht, das offene, geschlossene, aufgestellte, liegende, gestapelte Buch. Ich kann es zerstören oder halbieren. Das Fragment war in dieser Zeit ein sehr wichtiger Begriff für mich. Ich stellte Überlegungen zum Material an, zu fertigen Arbeiten oder unfertigen Teilen. Ich überlegte, Zeichnungen direkt auf die Wände oder Böden zu machen, den Raum direkt als Material zu betrachten.

Helga Meister: Schrift spielt für dich eher eine Rolle als Farbe. Deine Farbe ist selten malerisch.

Susanne Ristow: Das ist es ja eben, was meine Arbeit ausgemacht hat, ich habe nie wirklich angefangen zu malen, und wenn, habe ich monochrom gemalt. Ich war mit farbigen Zeichnungen befasst. Auf Leinwand habe ich fast nie gemalt.

Helga Meister: Benutzt du Fotos als Quellen?

Susanne Ristow: Die meisten Zeichner arbeiten heutzutage mit fotografischen Vorlagen, ich tue das relativ wenig. Ich habe, wie du weißt, mit filmischen Vorlagen gearbeitet. Fotografische Vorlagen kommen höchstens vor, wenn es von mir aufgenommene Serien sind. Es kann schon mal passieren, dass ich ein Bild aus einer Tageszeitung ausgeschnitten habe, Aldo Moro etwa, als er 1987 von den Roten Brigaden ermordet wurde. Es gibt immer wieder einmal Fotos, die mich beeindrucken, oder Kunstwerke. Ich sammle ständig Karten und Kopien von Werken und Fotos. Sie spielen als Vorlage für Zeichnungen eine Rolle. Es muss ein dejà vu-Effekt sein. Ich muss das Gefühl haben, es erweitert meinen Diskurs, dann baue ich sie ein.

Helga Meister: Deine Abschluss-Arbeit von 1997 für den Akademie-Brief war ein Netz von Zeichnungen auf dünnem Gaze-Stoff, gebrochen und gespiegelt durch großes, dickes Acrylglas. Die Zeichnungen auf der durchsichtigen Gaze hingen über dem transparenten Kunststoff und griffen in den Raum. Aber sie waren nicht sofort erkennbar. Du spielst gern mit der Neugier des Betrachters, machst Kunst verlockender, indem du sie wieder entziehst.

Susanne Ristow: Im gefalteten Zustand erkennt man die Zeichnung nicht. Jahrelang haben mich Zeichnungen interessiert, die gefaltet sind oder aus einer Tür herausquellen. Ich habe Falten bei Stoffteilen mit Menschen bevorzugt, das hatte eine gewisse Erotik. In Italien habe ich später Seidenpapier genommen, das wird aber irgendwann brüchig. Daraufhin habe ich die Gaze, Voile genommen, mit Hasenleim getränkt, das wirkt wie Pergament. Es ist viel haltbarer und strapazierfähiger als alle anderen Papiere.

Helga Meister: Was war der Beginn deines Interesses für den Film?

Susanne Ristow: Ich wollte einen Zeichentrickfilm machen und sagte mir, dann zeichne ich erst einmal den Film. Das wurde zu einer Sucht.
Man fängt an und meint, man könne etwas formulieren. Aber merkt, wie man mit der nächsten Zeichnung das eben Formulierte schon wieder in Frage stellt. Und dann kommt die nächste und die nächste und die nächste Zeichnung an die Reihe. Das geht immer weiter. Und man begreift, dass man sich nicht an das annähert, was da gezeichnet werden soll. Mit jeder Zeichnung wird das Gesicht mysteriöser, ich erlange damit keine Gewissheit über irgend etwas. Ich folge einer Bewegung, einer Linie, die irgendwo anfängt – und wahrscheinlich nicht mal anfängt – und die anfangs auch gar nicht zu denken ist. Es sind vermutlich auch nicht einige, sondern viele Linien. Wenn man von Linie spricht, denkt man ans lineare Denken und ans historische Denken, von hier kommend und dahin gehend. Daran glaube ich überhaupt nicht, dass das eine aus dem anderen folgt. Mir ist es wichtig, dass man sensibel ist für die Bewegungen, die um einen herum stattfinden. Man muss sich darauf einlassen und ein Gespür haben, dass von überall her Linien im Raum sind und dass man dann selber welche dazu tun kann.

Helga Meister: Du hast den Raum nie illusionistisch dargestellt?

Susanne Ristow: Nein, das interessiert mich nicht. Es ist keine akademische Beschäftigung mit der Figur.

Helga Meister: Erzähle von deinem DAAD-Stipendium in Neapel, 1998. Du bist dort auf Spurensuche gewesen. Du nanntest das Projekt „Disegno Agitatorio“, also „Agitatorische Zeichnung“ und deren Wiederholung im öffentlichen Raum. Was bedeutete dir Neapel? Du bist fast anderthalb Jahre geblieben und auch später immer wieder zurückgekehrt.

Susanne Ristow: Neapel ist eine geschichtete Stadt, sie hat ja zehn Meter unter der Altstadt die komplette Struktur der griechischen Stadt, darüber liegt die römische Schicht und darüber die normannische und dann die barocke Schicht, die man heute noch sehen kann. Man hat dort bis 600 nach Christi griechisch gesprochen. Man hat nie lateinisch gesprochen, die römischen Bürger haben das Griechische sehr verehrt. Neapel war dann eine hoch anerkannte Stadt in römischer Zeit, Nero ist dort oft zum Theater gegangen und hat sogar seine Schauspielkunst zum besten gegeben. Das war eine wichtige Stadt Großgriechenlands. Es ist später unter unterschiedliche Fremdherrschaften gekommen, was die Stadt sehr geschädigt hat. Neapel hat nie einen neapolitanischen König gehabt. Das Volk ist immer fürchterlich unterdrückt worden und hat dabei eine sehr interessante Überlebenskunst entwickelt, sich zu arrangieren. Deshalb ist es eine anarchistische Stadt, wo täglich Katastrophen passieren. Das hat viele Künstler gereizt und angezogen. Neapel ist die einzige Stadt Italiens, in der in den 60er, 70er und 80er Jahren wirklich neue Kunst gemacht wurde. Warhol war da, Beuys war da. All die Leute, die Castelli aus New York brachte, waren da. Hermann Nitsch ist da bekannt geworden. Es ist auch kein Wunder, wenn man dort über rote Farbe stolpert, es ist eine sehr blutrünstige Stadt. Dieses Blut gibt der roten Farbe Vitalität – und es ist das Fegefeuer. Eine andere typische Farbe ist das Neapelgelb, ein Blassgelb. Diese beiden Farben. Rot und Gelb, kamen plötzlich bei mir zum Schwarzweiß dazu. Und es kamen die sakralen Motive. Wenn man als protestantische Norddeutsche in so eine katholische Gegend kommt, die ja eigentlich antik ist mit ihrem griechisch-römischen Götterkult, dann kommt man zu anderen Bildern. Francesco Clemente sagt, als Neapolitaner habe man eine schamanistische Ader. Dieses Umgehen mit fremden, aber dennoch vertrauten Kräften lädt die Bilder auf.

Helga Meister: Beuys hat Palazzo Regale in Neapel gemacht, für das Museum Capodimonte, für den Königspalast,

Susanne Ristow: … den sich Karl III. 1738 hat bauen lassen, um die berühmte Sammlung Farnese unterzubringen. Er war der letzte Erbe der Sammlung Farnese. Sie existiert dort noch, mit Tizian, Breughel, den venezianischen Malern, den Caravaggios. Es gibt einige hervorragende Arbeiten von Giuseppe Ribera, der infolge der spanischen Besatzungszeit in Neapel gelebt hat. Die neapolitanischen Maler waren brutale und grausame Leute, die jeden fremden Künstler, der dort auftauchte, vergraulten, umlegten und verprügelten. Andererseits hat später Angelika Kaufmann dort eine Zeitlang gelebt und erfolgreich gearbeitet. Artemisia Gentilesci hat die Enthauptung des Holofernes in Neapel gemalt. Capodimonte hat eine wunderbare Gemäldesammlung, und Beuys hat die Arbeit für diesen Ort konzipiert. Ich finde es sehr traurig, dass sie nicht in Neapel geblieben ist. Es gibt auch viele moderne Arbeiten, von Kounellis etwa oder Polke. Es gibt hervorragende, wichtige Großsammler. Ich kenne in Neapel alle, die mit Kunst zu tun haben.

Helga Meister: Bleiben wir noch etwas in Neapel, bei deinem DAAD-Projekt von 1998/99. Du hast ein Jahr lang einmal im Monat, nachts, auf Mauern der historischen Altstadt einige ausgewählte Zeichnungen plakatiert.

Susanne Ristow: Das war ein Straßenprojekt. Ich habe mitten im Straßenleben kleine Kopien meiner Zeichnungen immer wieder an die gleichen Ecken geklebt. Im Abstand von mehreren Wochen tauchten sie auf. Es waren ganz kleine Blätter, und sie verschwanden wieder. Ich schaute mir den Prozess immer wieder an, dieses Auftauchen und Verschwinden, Beschriften und Abreißen. Ich wollte ein anonymer Künstler sein, der nicht in Erscheinung tritt, mit einer Ausstellung im Freien, die in einer Stadt wie Neapel nicht sofort als Kunstaktion begriffen wird. Die Zeichnungen hingen über Wochen und waren der Witterung, den Menschen, der Zeit ausgesetzt. Es war ein Versuch, sie in das Tagesgeschehen Neapels zu integrieren. In Südeuropa kann man ständig auf Spurensuche gehen. Man plakatiert zum Beispiel die Todesanzeigen, man findet überall Fetzen von irgendwas. Ich habe den Prozess dokumentiert und fotografiert, und ein Buch daraus gemacht.

Helga Meister: Zugleich berichtetest du mir von der harten Realität der Stadt, ihrer Atmosphäre aus Tod und Gewalt.

Susanne Ristow: Neapel ist die Heimat Caravaggios, der in Rom einen Mord begangen hat und sich dann in Neapel niederließ, um das Hafenmilieu zu malen. Seinem schönsten Christus warf man vor, er gleiche einem Hafenarbeiter. Ende des 18. Jahrhunderts wurden in dieser Stadt alle Aufständischen geköpft. Dieses Milieu aus Körperlichkeit, Brutalität und Sinnlichkeit, dieser Hang zum Verschleiern, diese Mischung aus Morbidem und Mysteriösem hatte es mir angetan. Als Protestantin aus Norddeutschland war mir diese Welt zunächst fremd, um mir später umso faszinierender zu werden. Ich pilgerte von Kirche zu Kirche, studierte die Kreuzabnahmen, die liegenden und die schlafenden Menschen. Kaufte mir Postkarten mit religiösen Motiven, atmete die Luft der Stadt ein, die als Ursprungsort der italienischen Transavantguardia gilt.

Helga Meister: Du hast Skizzen von Fresken und Gemälden genommen und 1998/99 auch ein „Neapolitanisches Tagebuch“ geschaffen. Als „Fundus“, wie du so gern sagst.

Susanne Ristow: Ich habe davon drei Bücher gemacht und Kopien in 300-er Auflage in der Stadt plakatiert. Die Leute haben sie abgerissen oder überklebt. Daraus wiederum entstanden Fotoserien, so dass es Fotodokumentationen und Bücher gibt. Ich habe das Projekt 2000 in Berlin weitergeführt und dazu ein preußisches Justiz-Ministerialblatt von 1898 in Buchform genommen und bearbeitet. Es waren ziemlich krasse Gesetze, zum Beispiel, was man mit einer Frau macht, die im Gefängnis ein Kind kriegt. Ich habe auf die Gesetzesblätter die menschlichen Situationen gemalt, aber in Berlin keine Route durch die Stadt gemacht wie in Neapel, sondern nur den Kollwitz-Platz im Prenzlauer Berg ausgesucht, der noch nicht so überrenoviert wie heute war, und den Heinrichplatz in Kreuzberg. Zwei unterschiedliche Stadtviertel also. Ich habe einmal im Monat eine Plakataktion durchgeführt. Ich wollte wissen, ob eine Zeichnung im öffentlichen Raum auch in Deutschland möglich ist?

Helga Meister: Wie ging es nach Neapel weiter?

Susanne Ristow: Ich habe 2001 einen neuen Film gezeichnet, „Watching Intimacy“ nach Patrice Chéreaus „Intimacy“ mit Kerry Fox und Mark Rylance. Aus dieser Arbeit entstand der groß#e Filmzyklus „Einsame Helden“ auf 265 Sperrholztafeln. Zur Zeit arbeite ich an einer Männersammlung, dem „Adonis Depot“.

Helga Meister: Du setzt dich mit den entfliehenden Bildern des Films auseinander und schaffst dann doch einzelne Bilder. Wozu brauchst du den Film?

Susanne Ristow: Ich will Bilder aus dem gewohnten Kontext heraustrennen. Ich will diese Form von Gleichzeitigkeit und Zeitlosigkeit.